Auf Messers Schneide – Wie Chirurginnen anders beurteilt werden als Chirurgen
Die Studie in Kürze
Auch in der Medizin gibt es schweizweit eine leaky pipeline: Während zum Beispiel bereits vor 30 Jahren ein Drittel der Medizinstudenten weiblich waren (Riecher et al., 2009), besetzen Frauen heute nur rund 10 Prozent der Chefarztstellen (Bilanz, 2015). Hätten die Studentinnen vor 30 Jahren in ihrer weiteren Karriere die gleichen Wege wie ihre männlichen Kollegen eingeschlagen, sollten wir heute deutlich mehr Chefärztinnen in der Schweiz sehen.
Woher genau kommt diese 20 Prozentpunkte grosse Lücke zwischen Medizinstudentinnen und Cherfärztinnen? Möchten Frauen nicht Chefarzt werden? Oder haben sie es deutlich schwerer, aufzusteigen?
Letzteren Aspekt beleuchtet die Ökonomin Heather Sarson in einer Studie, in der sie Überweisungen von Ärzten an Chirurgen oder Chirurginnen vergleicht. Wenn der Patient einer weiblichen Chirurgin infolge der Operation überraschend stirbt, sendet der überweisende Arzte ihr danach deutlich weniger Patienten. Chirurgen mit ähnlichen Charakteristiken bekommen jedoch nach solch einem Misserfolg sogar eher mehr Patienten überwiesen.
Zusätzlich überweisen Ärzte nach einer schlecht verlaufenen OP von einer Chirurgin weniger Patienten an alle zur Verfügung stehenden Chirurginnen. Dies führt dazu, dass Chirurginnen über ihre Karriere hinweg insgesamt weniger OPs, und insbesondere weniger schwierige OPs durchführen können. Schwierige OPs bilden jedoch einen wichtigen Erfahrungsschatz, der wiederum notwendig für Beförderungen ist.
Der Aufbau der Studie
Wie kann Heather Sarsons in ihrer Studie weibliche mit männlichen Chirurgen vergleichen, obwohl Frauen weniger häufig in bestimmten Spezialgebieten tätig sind, durchschnittlich weniger Berufserfahrung aufweisen, und risikoärmere Patienten operieren? Wenn man nur die Rolle, die das Geschlecht des Operierenden spielt, analysieren möchte, würde man als Wissenschaftler idealerweise denselben Patienten von genau demselben Chirurgen operieren lassen, und nur das Geschlecht des Operierenden ändern. Dies ist in der Realität natürlich unmöglich.
Sarsons wendet daher ein sogenanntes «Matching» Verfahren an, mit dem sie für jede weibliche Chirurgin in ihrer Stichprobe einen männlichen Chirurgen findet, der genau die gleichen Charakteristiken aufweist: Das heisst im gleichen Spezialgebiet tätig ist, den gleichen Erfahrungsschatz hat und die gleiche Operation an einem Patienten des gleichen Geschlechts mit einer gleich hohen Sterbewahrscheinlichkeit durchführt.
Was passiert nach einem überraschend schlechten OP Ausgang?
Im Folgenden vergleicht die Autorin nun, wie sich das Verhalten des überweisenden Arztes anpasst, wenn der Patient eines Operierenden überraschenderweise infolge der OP stirbt. Wie ändert sich die Anzahl Patienten, die ein Arzt überweist, nachdem zum ersten Mal in der Beziehung zwischen überweisendem Arzt und Chirurg ein überraschend negatives Ergebnis auftritt?
Quelle: Sarsons, 2019. Figure 3, p.54
Die Graphik zeigt, wie viele Patienten ein Arzt im Schnitt an einen Chirurgen vor und nach einer OP mit unglücklichem Verlauf überweist. Auf der vertikalen Achse sind die durchschnittlichen Überweisungen pro Quartal aufgetragen (normiert auf Null im Quartal 0, in dem die missglückte OP stattfindet). Auf der horizontalen Achse sind die Quartale vor (-4 bis -1) und nach (1 bis 6) einer missglückten OP markiert. Die roten Dreiecke sind die Schätzungen für weibliche Operierende, die blauen Punkte für männliche.
Hier sieht man zuerst sehr deutlich, dass die weiblichen und männlichen Chirurgen ähnlich behandelt werden, bevor ein schlechtes Ereignis auftritt: sie bekommen im Schnitt genau gleich viele Überweisungen pro Quartal vom überweisenden Arzt. Im Quartal direkt nach der OP mit schlechtem Ausgang ergibt sich jedoch eine Divergenz: Ärzte überweisen im Schnitt rund 0.25 Patienten weniger an die Chirurgin als an den Chirurgen. Dies obwohl das negative Ergebnis der OP in beiden Fällen überraschend kam. Die Überweisungszahlen an weibliche Chirurgen bleiben zudem während der nächsten 1.5 Jahre konstant tiefer.
Nicht nur die Anzahl der überwiesenen Patienten einer Chirurgin ändert sich, sondern auch weitere Variablen, die für ihre Karriere wichtig sind: Ein Arzt sendet nach einem Misserfolg nur noch weniger risikoreiche Patienten für weniger komplizierte Eingriffe zur Chirurgin, während das Patientenrisiko für den männlichen Chirurgen gleichbleibt. Die Einbusse in Überweisungen hat für eine Chirurgin auch finanzielle Folgen, da dies ihre Krankenkassen-Abrechnungen reduziert.
Bei den beschriebenen Verhalten spielt das Geschlecht des überweisenden Arztes übrigens keine Rolle: Ärztinnen reagieren genau gleich wie Ärzte in ihrem Überweisungsverhalten.
Handelt der überweisende Arzt vielleicht doch rational?
Wie könnte das angepasste Überweisungsverhalten des Arztes dennoch rational sein? Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn weibliche Chirurginnen eine höhere Varianz in ihren Fähigkeiten aufweisen, die der überweisende Arzt nicht direkt beobachten, und daher aus OP Ausgängen ableiten muss. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn es mehr sehr gute und auch mehr sehr schlechte weibliche Chirurginnen als männliche Chirurgen gäbe, die männlichen Chirurgen aber alle im Schnitt eher gleich fähig sind. In solch einem Szenario wäre es angebracht, dass ein Arzt nach einem schlechten OP Ausgang weniger Patienten an die operierende Frau sendet.
Nach derselben Logik müsste der Arzt dann aber nach einem überaschend guten OP Ausgang darauf schliessen, dass die operierende Chirurgin zu den sehr guten gehört und ihr damit in Zukunft mehr Patienten überweisen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Auch nach einem überraschend guten OP Ergebnis passt der Arzt die Überweisungszahlen viel stärker nach oben an, wenn ein männlicher Chirurg am Werk war.
Was bedeutet ein schlechtes OP Ergebnis für andere Chirurginnen?
Sarsons zeigt weiterhin, dass der überweisende Arzt nach einer OP, in der der Patient überraschend stirbt, nicht nur weniger Patienten an die operierende Chirurgin, sondern in Folge auch weniger Patienten an Chirurginnen, die im gleichen Spezialgebiet tätig sind, überweist.
Quelle: Sarsons, 2019. Figure 7.A, p.58
Auch hier sind wieder auf der horizontalen Achse die Quartale jeweils vor und nach der missglückten OP aufgetragen. Auf der vertikalen Achse sind nun jedoch die durchschnittlichen Überweisungen an Chirurgen und Chirurginnen im selben Fachgebiet (ohne den jeweils Operierenden), abgebildet.
Wie in der Graphik deutlich zu sehen, sinken die Überweisungen an komplett unbeteiligte Chirurginnen (rote Dreiecke), nachdem eine einzige Chirurgin ein negatives Ergebnis hatte. Nach einer schlecht verlaufenen OP eines männlichen Chirurgen überweist der Arzt aber weiterhin konstant Patienten an dessen männliche Kollegen (blaue Punkte). Durch dieses Verhalten scheint der Arzt Männer eher als Einzelpersonen am Operationstisch, Chirurginnen aber als eine Einheit, die sich primär durch ihr Geschlecht auszeichnet, wahrzunehmen.
Was bedeuten diese Resultate für andere Berufsfelder?
Zusammengenommen zeichnen die Ergebnisse von Heather Sarsons ein eher düsteres Bild: Frauen werden nach einem unerwarteten Misserfolg sowohl selbst, als auch als Gruppe bestraft, während dies für Männer nicht der Fall ist. Da es sich in der Chirurgie um ein stark männerdominiertes Fachgebiet handelt, sind ähnliche Verhaltensmuster wahrscheinlich insbesondere in Berufsumfeldern, in denen es wenige Frauen gibt, möglich.
Ändern kann man hier nur etwas, wenn Vorgesetze anfangen, Misserfolge nicht auf das Geschlecht des jeweiligen Mitarbeiters zurückzuführen und sich bei Auftragsvergaben jeder Art bewusst zu entscheiden, wer den Zuschlag erhält.
Ein Silberstreif am Horizont zeigt sich aber auch in dieser Studie: Misserfolge fallen nicht mehr so stark ins Gewicht, wenn ein überweisender Arzt eine lange Überweisungsbeziehung mit der operierenden Chirurgin hat, und generell öfters an Frauen überweist.
Zum Weiterlesen:
Die komplette Studie findet man hier:
Sarsons, Heather. 2019. “Interpreting Signals in the Labor Market: Evidence from Medical Referrals”, Working Paper. https://drive.google.com/file/d/12p8ShbobdqVWl51s0drNxdZYHQIstja9/view